Erklärung – Zum Neutralitätsgebot als Disziplinierungsinstrument

Kinder- und Jugendhilfe kann nicht neutral sein – sie muss sich positionieren!

Zum Neutralitätsgebot als Disziplinierungsinstrument

Das politische Klima hat sich in den letzten Jahren im ganzen Land zunehmend verschärft. Demo­kratische Haltung und demokratischer Umgang haben darunter gelitten. Der Rechtsruck ist deutlich spürbar. Viele Parteien haben sich von den beunruhigend hohen Wahlergebnissen der AfD beein­flussen lassen. Sie übernehmen ihre rassistischen, konkurrenzschürenden und populistischen Narra­tive und sind in der Sache und im Ton nach rechts gerückt. Bundesweit gingen und gehen dagegen Hunderttausende auf die Straße und demonstrieren gegen den Fall der Brandmauer gegen Rechts.

Daraufhin reichte die Fraktion CDU/CSU am 24. Februar die Schriftliche Kleine Anfrage „Politi­sche Neutralität staatlich geförderter Organisationen“ mit der Drucksachennummer 20/15035 ein. In 551 Fragen wird den Nichtregierungsorganisationen (NGO) und den gemein­nützigen Körper­schaften unterstellt, eine „Schattenstruktur“ gebildet zu haben, die mit staatli­chen Geldern indirekt Politik betreiben würde: „Laut einem Bericht der „Welt“ erhalten zahl­reiche NGOs, die sich öffent­lich politisch links positionieren, finanzielle Mittel aus Bundesmi­nisterien. Dies stellt ein Span­nungsverhältnis dar, denn wenn diese Organisationen aktiv in politische Meinungsbildung eingrei­fen, könnte dies ein Verstoß gegen die demokratische Grundordnung sein (www.welt.de/debatte/plus255395416/NGOs-Der-deutsche-Deep-State-und-seine-gefaehrliche-Macht.html).“ (Zitat aus der oben genannten Anfrage, Seite 1)

Diese Anfrage stellt einen unzulässigen Versuch dar, zivilgesellschaftliches Engagement und fachli­che Positionierungen politisch mundtot zu machen, weil sie öffentliche Kritik an der Po­litik von AfD und CDU/CSU geübt haben. Die protestierenden Initiativen Zusammenschlüsse, Vereine und Verbände äußern sich im Sinne ihres Daseins- und Satzungszwecks zu gesell­schaftlich wichtigen Themen und Vorgängen. Sie nehmen nicht Partei für Parteien, sondern sind parteilich für Mensch und Leben, für die Verbesserung von Lebensbedingungen und Le­bensumständen. Das kann ihnen niemand verwehren! Sie nehmen so ihr verfassungsrechtlich gesichertes und demokratiekonstituie­rendes Recht auf freie Meinungsäußerung und die Frei­heit, sich friedlich zu versammeln wahr.

„Zivilgesellschaftliche Institutionen spielen eine wichtige Rolle in einer demokratischen Gesells­chaft. Unter anderem fördern sie politische Bildung, engagieren sich gegen Rechtsextre­mismus, Ge­walt und Radikalisierung, setzen sich für Umwelt- und Klimaschutz ein und vertei­digen grundlegen­de Menschenrechte. Ihre Arbeit dient dem demokratischen Gemeinwohl so­wie der Artikulation poli­tischer Meinungen – auch in der Form von legitimem Protest – und ist gerade in Zeiten erstarken­der autoritärer Strömungen von zentraler Bedeutung. Sie dürfen und sollen unbequeme Fragen stel­len und Parteien für ihr Handeln und Vorhaben kritisieren.“ (Offener Brief anlässlich der Kleinen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur politischen Neutra­lität staatlich geförderter Organisationen, verfassungsblog.de)

In den letzten Monaten und Jahren hat die Tendenz stark zugenommen, auf politisch unbeque­me Kritik mit Stimmungsmache und Einschüchterung zu reagieren. Wir verweisen auch auf den unbe­gründeten und hoffentlich einmaligen Versuch, die Jugendverbände in Hamburg ei­ner Untersu­chung durch das Landesamt für Verfassungsschutz zu unterziehen.

Zuletzt hat der AfD-Abgeordnete Dr. Alexander Wolf (AfD) am 18. Februar 2025 in der Ham­bur­gis­chen Bürgerschaft eine Anfrage zu angeblich massiven Verstößen gegen das Neutralitätsg­ebot am Emilie-Wüstenfeld Gymnasium gestellt. Eine Woche später am 24. Februar un­terstellte derselbe Abgeordnete in einer weiteren Anfrage dem Landeselternausschuss (LEA), die­ser hätte im Zusam­menhang mit seinen Wahlprüfsteinen die AfD diskreditiert und gegen die politi­sche Neutralität ver­stoßen.

Das Grundgesetz schützt das Recht auf freie Meinungsäußerung. Wer dies beschränken will, wer ei­nen unzulässigen Druck auf diejenigen ausübt, die es tun, wer politische Neutralität als Untertanen­geist einfordert, hat ein Problem mit Demokratie und freiem Meinungsstreit: „Die Neutralitäts­pflicht des Staates bezieht sich auf das Handeln der Exekutive, nicht aber auf die Meinungsäuße­rungen und die politische Arbeit unabhängiger zivilgesellschaftlicher Akteure. Eine Übertragung dieser Pflicht auf Nichtregierungsorganisationen ist daher ein „etatisti­sches Mißverständnis“ (Offener Brief anlässlich der Kleinen Anfra­ge der CDU/CSU-Fraktion zur po­litischen Neutralität staatlich geförderter Organisationen, verfassungsblog.de).

Ob es nun das große Spektrum der NGOs betrifft, ob insbesondere die Träger und Verbände der Kinder- und Jugendarbeit, die Elternvertretungen und die Schüler- und Studieren­den­selbst­ver­tre­tun­g­en, die Gewerkschaften und andere, wir alle wollen nicht einem Sys­tem von Gehorsamkeit, Ein­schüch­terung und Folgsamkeit unterworfen sein, sondern vielmehr als Ak­teure einer lebendigen Demo­kratie wirken.

Die Fachkräfte, die freien und kommunalen Träger der Einrichtungen und Institutionen, die Verbän­de in der Kinder- und Jugendhilfe legen ihren Fokus auf die Rechte, Bedürfnisse, Inter­essen und den Schutz von jungen Menschen und ihren Familien. Sie haben ihre gesellschaftli­chen Lebens- und Entwicklungsbedingungen sowie ihren Anspruch auf gesellschaftliches Ge­hör und auf Beteili­gung an der Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen im Blick. Proble­me und Missstände müs­sen öffentlich thematisiert und Lösungen solidarisch gefordert wer­den. Ebenso müssen Kinder und Jugendliche sich politisch und demokratisch bilden können, die Kinder- und Jugendbeteiligung um­fänglich gefördert und junge Menschen dazu ermutigt werden, sich zu selbst zu organisieren.

Paragraph 1 des SGB VIII beauftragt die Kinder- und Jugendhilfe dazu junge Menschen in ih­rer in­dividuellen und sozialen Entwicklung zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen, die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen und dazu beizutragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und famili­enfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.

Dies kann nur mit einem menschen- und kinderrechteorientierten Professionsverständnis ge­lingen und erfordert ein Arbeitsfeld, dass sich solidarisch, beteiligend und parteilich, eindeutig und öffent­lich politisch für die Interessen, Bedürfnisse und Rechte von Adressat*innen und Fachkräften ein­mischt und einsetzt.

Wir lassen uns den Mund nicht verbieten! Antidemokratischen, populistischen und rechts­ex­tre­mistis­chen Angriffen auf unser politisches Engagement, unser Arbeitsfeld und unsere Kol­leg*innen werden wir solidarisch und streitbar entgegentreten!

(einstimmig verabschiedet von den Teilnehmenden des Kinder- und Jugendhilfegipfels am 4. April 2025)