Aufruf

TU WAS, HAMBURG!

Lage des ASD und der Sozialen Arbeit insgesamt ist dramatisch!

Fachleute fordern Hamburger Kinder- und Jugendgipfel

Der Schutz und die Wahrung des Kindeswohls haben sich zu den zentralen Aufgaben des Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD) in den Jugendämtern entwickelt, gleichwohl weist das SGB VIII dem ASD einen erheblich weiteren Katalog an Leistungen und anderen Aufgaben zu. Im Kern geht es darum, Kinderrechte zu realisieren, also gute Bedingungen für ein gelingendes Aufwachsen zu schaffen. Dazu gehört auch, Kinder und Jugendliche vor körperlicher und psychischer Gewalt, Vernachlässigung oder sexuellem Missbrauch zu schützen, sie und ihre Eltern auch in Krisensituationen zu beraten, begleiten und zu unterstützen sowie mit ihnen in unterschiedlichen Angeboten, wie bspw. den Hilfen zur Erziehung in ambulanten und stationären Formen, zu kooperieren. Die Personensorgeberechtigten haben darauf ein Recht. Eltern und ihre Kinder müssen in diesem Prozess zwingend beteiligt werden. Seit einigen Jahren nehmen die Problemlagen und Hilfebedarfe in den Familien im gravierenden Maße zu. Die Zahl der Meldungen von Kindeswohlgefährdungen, die Zahl der hilfesuchenden Kinder und Eltern und die Zahl der gewährten arbeits- und kostenintensiven Hilfen zur Erziehung bewegen sich auf einem konstant hohen Niveau.

Es lastet ein großer Druck auf den Fachkräften des ASD, in der ambulanten und stationären Jugendhilfe sowie in den Kinder- und Jugendpsychiatrien. Der Fachkräftemangel, so ein Narrativ der Verantwortlichen, in diesen und weiteren Jugendhilfebereichen führe auch bundesweit zur Absenkung von Beteiligungs-, Beratungs- und Hilfequalität zulasten der Hilfebedürftigen. Die Personalfluktuation im ASD und im Arbeitsfeld der Hilfen zur Erziehung ist u.a. aufgrund der belastenden Arbeitsbedingungen und der unzureichenden tariflichen Entlohnung insbesondere in vielen Großstädten hoch. Die Fachkräfte im ASD benötigen mehr Handlungsspielräume und weniger Kontrolle, um gemeinsam mit den Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern, ihre Rechte zu stärken, zu schützen und damit auch ihr Wohl zu sichern. Kinder und Jugendliche und ihre Eltern wiederum benötigen eine dafür geeignete Infrastruktur, bspw. durch einen niedrigschwelligen Zugang zum ASD.

Am 16. Dezember entschlossen sich die sieben Hamburger Bezirksjugendamtsleitungen zu einer außergewöhnlichen, zeitlich begrenzten Vereinbarung, die als Notruf und Warnung verstanden werden muss. Darin heißt es wörtlich:

„Die Arbeitssituation im ASD ist durch zusätzliche Aufgaben (KJSG*), Krisenunterstützung für die ASD-Z, Umsetzung des BTHG*, zunehmende Fallkomplexität und ohne Durchführung der notwendigen Personalbemessung sehr belastet. Zusätzlich verstärkt wird die Belastung durch fehlende Inobhutnahmeplätze und stationäre Angebote. Die Suche nach geeigneten Unterbringungen bindet viele Personalressourcen. Die Bezirke haben jeweils die ihnen zur Verfügung stehenden Maßnahmen ergriffen, um Arbeitsabläufe zu optimieren und die vorhandenen Ressourcen bestmöglich einzusetzen, Dies reicht jedoch nicht mehr aus, um den Kinderschutz dauerhaft zu gewährleisten.“

Demnach müssen besonders belastete ASD-Abteilungen bestimmte Standards und fachliche Vorgaben im Einzelfall nicht mehr so wie vorgesehen einhalten, nicht willkürlich und unter Wahrung des Kinderschutzes und Kindeswohls. Unterstellt wird dabei, dass insbesondere trotz des Drucks Kindeswohlgefährdungen „fehlerfrei“ erkannt werden können, was durchaus bezweifelt werden muss. Trotzdem werden wichtige Handlungsmaßnahmen eingestellt oder reduziert wie bei der Teilhabeplanung, den Abschlussgesprächen in der Volljährigenhilfe oder beim Hilfeplangespräch (als das zentrale Gremium zur Beteiligung der Nutzer*innen), das nur noch einmal statt zweimal im Jahr stattfinden soll.

Die LAG Kindheit und Jugend geht davon aus, dass die bezirklichen Jugendamtsleitungen diesen Schritt nicht leichtfertig unternahmen, sondern in der Sorge handelten, dass die Fachkräfte der Allgemeinen Sozialen Dienste ihren Aufgaben aufgrund objektiver Umstände nicht mehr in dem Maße nachkommen können, wie es notwendig wäre. Seit 2021 gab es laut Angaben des Senats auf eine schriftliche Kleine Anfrage der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft in den ASD-Abteilungen in fünf Bezirken 72 Überlastungsmeldungen. Aus Hinweisen von Fachkräften wissen wir, dass es mehr Überlastungsanzeigen sein müssen. Es ist ohnehin davon auszugehen, dass die Zahl der Fachkräfte, die überlastet sind, es aber nicht zu melden wagen, höher ist, als registriert wurde.

Die außerordentlich hohe Regelungsdichte sowie die Vielzahl gesetzlicher Bestimmungen und verwaltungsrechtlicher Verordnungen tragen ebenso wie die komplexe Fallaufnahme und der hohe Bearbeitungsaufwand in der Dokumentation dazu bei, dass viele neu eingestellte und aufwendig eingearbeitete Fachkräfte bald wieder kündigen. Der Verwaltungsaufwand, die Angst, dabei etwas falsch zu machen, der Kontrolldruck und die Empfindung, nicht genug Zeit zu haben, um die Hilfesuchenden wirkungsvoll und nachhaltig zu unterstützen, sorgen nicht unmaßgeblich für eine große Personalfluktuation. Dazu gesellen sich der Fachkräftemangel und die Tatsache, dass erfahrene Fachkräfte zusehends fehlen. Junge Bewerber*innen mit wenig sozialpädagogischen Erfahrungen in der Jugendhilfe geraten schnell in eine Überforderungssituation, die sie kaum bewältigen können. Große Unzufriedenheit herrscht auch über die unzureichende tarifliche Entlohnung der Fachkräfte, ohnehin ein Manko im Feld der Sozial- und Erziehungsdienste.

Hier muss angesetzt werden, um die Arbeitssituation zugunsten der Hilfebedürftigen und der Fachkräfte zu entspannen. Die Hebel müssen unter anderem in der Ausbildung, in der Fort- und Weiterbildung, in der Personalbemessung, in der sinnvollen Verringerung des Verwaltungsaufwands, bei der Durchforstung des Regelungsdickichts, bei den Angeboten bezüglich der Hilfen zur Erziehung und bei der Gestaltung des Zeitrahmens im Umgang mit den Hilfebedürftigen betätigt werden.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Allgemeiner Sozialer Dienst (BAG ASD) konstatiert in ihrem Brief vom 24. März 2023 an die Bundesregierung:

„Wir müssen Ihnen sagen: Mit größter Sorge und zunehmender Verzweiflung betrachten wir die Situation der Kinder, jungen Menschen und Familien aber auch die Situation in den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD), den Krisen- und Schutzstellen, Wohngruppen und ambulanten Hilfen zu Erziehung. Das System der Kinder- und Jugendhilfe als kritische Infrastruktur kollabiert. Es kann seinen gesetzlichen Auftrag nicht mehr erfüllen!“

In Hamburg sind derzeit der Kinder- und Jugendnotdienst (KJND), die Kinderschutzhäuser und die Kinderschutzgruppen so ausgelastet, dass es oft nur mit sehr hohem Aufwand möglich ist, betroffene Kinder oder Jugendliche im Rahmen der Gefahrenabwehr unterzubringen. Teilweise müssen Geschwisterverbände auf mehrere Einrichtungen verteilt werden, da eine gemeinsame Unterbringung aufgrund fehlender Ressourcen nicht möglich ist. In der stationären Jugendhilfe gibt es zu wenig Plätze. In 14 Einrichtungen, darunter im KJND und in Wohngruppen, sorgen Sicherheitsdienste für „Ordnung“ im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, ein sicherer Hinweis auf die unhaltbaren Zustände in diesen Einrichtungen. Die Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit und in der Familienförderung sind strukturell unterfinanziert. Die Liste ließe sich unglücklicherweise fortsetzen.

Die BAG ASD fordert die Einberufung eines Kinderschutzgipfels unter Federführung der Bundesregierung. Wir fordern einen Hamburger Kinder- und Jugendhilfegipfel (Kinder- und Jugendhilfe ist mehr als nur Kinderschutz) unter Beteiligung von Nutzer*innen (Expert*innen aus Erfahrung), der zuständigen Senatorin, fachlichen Vertreter*innen der Bürgerschaftsparteien und aus der Sozialbehörde sowie der Akteure in der Jugendhilfe. Es geht darum, gemeinschaftlich einen Prozess anzustoßen, der für grundlegende Verbesserungen in der Kinder- und Jugendhilfe sorgt. Diesen Anstoß hatte auch schon die Enquete-Kommission „Kinderschutz und Kinderrechte weiter stärken“ mit ihren 70 Empfehlungen gegeben. Daran gilt es anzuknüpfen!

* KJSG = Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, seit Juni 2021 in Kraft
* BTHG = Bundesteilhabegesetz

Hintergrundmaterial: Die Drucksachen 22/10823, 22/10783, 22/10925, 22/11089, 22/11469, 22/10639, 22/10092, 22/10275, 22/7706, Schriftliche Kleine und Große Anfragen der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft.

Erstunterzeichner*innen:

Zusammenschlüsse:

Einzelpersonen:

  • Sabine Boeddinghaus (Abgeordnete Hamburger Bürgerschaft, Fachsprecherin für Schule, Bildung, Jugend und Familie)
  • Lea Degener (Gewerkschaftspolitische Assistenz ver.di, Hamburg)
  • Berit Ehmke (Gewerkschaftssekretärin ver.di Hamburg)
  • Michael Gehrdau (Pflegevater von erwachsenen Pflegekindern und Mitglied PFIFF e.V.)
  • Dr. Wolfgang Hammer (Freiberuflicher Soziologe und Fachautor)
  • Jörg Hasse (Mitarbeiter der Kinder-und Jugendhilfe der Stiftung Das Rauhe Haus
  • Thomas Iwan (Mitglied des JHA Wandsbek, Sprecher Die Linke Landesverband Hamburg)
  • Sunny Kapoor (Mitglied SPD Hamburg)
  • Sabine Lafrentz (Mitglied Landesvorstand GEW, Hamburg)
  • Prof. i.R. Dr. Michael Lindenberg
  • Prof. Dr. Tilman Lutz
  • Florian Muhl (Aktionsbündnis gegen Geschlossene Unterbringung und Universität Hamburg)
  • Prof. Dr. Manfred Neuffer (HAW Hamburg und Mitglied im Sprecherrat LAG ASD Hamburg)
  • Ronald Prieß (Botschafter der Straßenkinder in Hamburg und Mitglied der Interessenvertretung Offene Arbeit/ IVOA)
  • Matthias Stein (LAG ASD Hamburg und Co Sprecher der LAG Kindheit und Jugend)
  • Volker Vödisch (Sprecher der LAG Kindheit und Jugend)
  • Klaus Wicher (SoVD Sozialverband Deutschland, LV Hamburg)
  • Thomas Zurborg (LAG-ASD Hamburg und Mitglied im Sprecherrat der LAG ASD HH)

Weitere Unterzeichner*innen:

Zusammenschlüsse:

Einzelpersonen:

  • Heinz Bründel (1. Vorsitzender PFIFF e.V. und Mitglied JHA Altona)
  • Sabine Clausen (Amtsvormundschaft Eimsbüttel)
  • Ulrike Dockhorn (VI Zukunft Lernen – Bildung ohne Zwang)
  • Sieglinde Frieß (ver.di Gewerkschaftssekretärin und Stellvertretende Landesvorsitzende SoVD Hamburg)
  • Dennis Finnern (Leitung Bauspielplatz Tegelsbarg)
  • Marc-Oliver Fischer (JC Burgwedel)
  • Sarah Flores de Oliveira (ver.di, Hamburg)
  • Manfred Gedai (Mitglied der GEW, GBS-Erzieher)
  • Irene Groene (Mitglied verdi, Hamburg)
  • Manuel Heer (ver.di Hamburg)
  • Kathrin Kaab (ver.di Hamburg)
  • Meinhard Lampl
  • Jan Kersten Otholt (DBSH)
  • Jochen Schulz (Mitglied im Sprecherrat LAG / ASD HH und im FV Erziehung, Bildung und Soziale Arbeit, ver.di Hamburg)
  • Merle Schütt (ver.di, Hamburg)
  • Martina Vödisch
  • Susanne Wirbel (ver.di, Hamburg)
  • Vivian Sorgenfrei (Home Support)

Ansprechpartner für weitere Unterzeichner*innen:

Volker Vödisch: volker-voedisch[at]t-online.de

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